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Deutschland scheitert bei der Bekämpfung von antimuslimischem Rassismus

Fehlendes Handeln, mangelndes Verständnis, unzureichende Daten und Kapazitäten

Demonstrators mark the anniversary of a far-right extremist attack on February 19, 2020 in Hanau, Germany, that killed nine persons of predominantly Muslim background, February 17, 2024. © 2024 Hasan Bratic, picture-alliance/dpa/AP Images

(Berlin, 30. April 2024) – Obgleich die Zahl der Fälle von antimuslimischen Hassverbrechen und Diskriminierungen steigt, versäumt es die Bundesregierung, Muslim*innen und muslimisch gelesene Menschen vor Rassismus zu schützen, so Human Rights Watch heute. Dass die Regierung solche Vorfälle nicht verhindert und ahndet, ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass keine Arbeitsdefinition von antimuslimischem Rassismus und offizielle Daten über die Vorfälle vorliegen und keine Investitionen in die institutionelle Unterstützung der Betroffenen getätigt werden.

„Dass die Bundesregierung es nicht schafft, Muslim*innen und muslimisch gelesene Personen vor Hass und Diskriminierung zu schützen, liegt schon allein an der fehlenden Einsicht, dass sie Rassismus erleben – und nicht nur religiöse Anfeindungen“, sagte Almaz Teffera, Researcherin zum Thema Rassismus in Europa bei Human Rights Watch. „Ohne ein klares Verständnis von antimuslimischem Hass und Diskriminierungen in Deutschland und ohne aussagekräftige Daten über Vorfälle und Investitionen in Beratungsstellen werden die deutschen Behörden nicht effizient dagegen angehen können.“

Bis Ende September 2023 wurden der vorläufigen Statistik der Bundesregierung zufolge 686 „anti-islamische“ Straftaten verübt – mehr als im gesamten Vorjahr (610). Mitte Januar 2024 teilte das Bundesministerium des Innern und für Heimat Human Rights Watch mit, dass es noch keine Fallzahlen für den Zeitraum zwischen Oktober und Dezember vorlegen könne. Zivilgesellschaftliche Gruppen in Deutschland warnten jedoch vor einem Anstieg antimuslimischer Übergriffen nach den Israel-Palästina Feindseligkeiten im Oktober.

Am 30. November unterzeichnete Reem Alabali-Radovan, die Antirassismusbeauftragte der Bundesregierung, eine erste EU-weite Erklärung gegen antimuslimischen Hass. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung und zeigt, wie wichtig es ist, Muslim*innen in Deutschland und anderen europäischen Ländern besser zu schützen, so Human Rights Watch.

Rima Hanano, Leiterin der Allianz gegen Islamfeindlichkeit und antimuslimischen Hass (CLAIM), einem deutschen Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen, berichtete Human Rights Watch, dass im Jahr 2023 ein beängstigender neuer Höchststand an antimuslimischen Übergriffen und Diskriminierungen erreicht wurde. Im November dokumentierte CLAIM durchschnittlich drei antimuslimische Vorfälle pro Tag. In einem Fall wurde ein muslimisch gelesener Mann beim Verlassen eines Busses als „Terrorist“ bezeichnet, angegriffen und wegen seiner Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert.

Es ist zwar auch wichtig, dass zivilgesellschaftliche Gruppen wie CLAIM Daten über solche Vorfälle sammeln, doch muss die Bundesregierung dringend eine eigene Infrastruktur für die landesweite Überwachung und Datenerfassung auf Grundlage klarer Indikatoren entwickeln, die den Behörden das nötige Wissen und die Instrumente an die Hand gibt, um das Problem anzugehen.

Seit 2017 klassifiziert das deutsche Strafjustizsystem Hassverbrechen gegen Muslim*innen und Menschen, die als solche gelesen werden, als „islamfeindlich“ motiviert. Dabei werden Vorurteile auf die religiöse Identität zurückgeführt, in Abgrenzung zu ethnisch motiviertem Hass, so Human Rights Watch.

Laut der von der Regierung in Auftrag gegebenen dreijährigen Studie über Muslimfeindlichkeit in Deutschland („Bericht des Unabhängigen Expert*innenkreises Muslimfeindlichkeit“ – UEM), die im Juni 2023 veröffentlicht wurde, ist antimuslimischer Hass in Deutschland weit verbreitet. Der Bundesregierung wird darin geraten, antimuslimischen Hass nicht länger von Rassismus zu trennen, sondern den Zusammenhang anzuerkennen. Ein Autor der Studie zeigte sich bestürzt darüber, dass das Innenministerium weder mit den Autor*innen gesprochen noch deren Empfehlungen umgesetzt hat. Innenministerin Nancy Faeser sagte, sie sei nicht mit allem einverstanden, was in dem Bericht stehe.

In einer schriftlichen Antwort der Bundesregierung auf ein Schreiben von Human Rights Watch, reagierend auf die Zunahme von antimuslimischem und antisemitischem Hass, von Mitte Dezember, verwies das Bundesministerium des Innern und für Heimat auf die UEM-Studie und räumte damit implizit ein, dass antimuslimischer Rassismus in der Kategorie islamfeindlicher Straftaten nicht berücksichtigt wird. Das Ministerium ging jedoch nicht näher darauf ein, wie es seinen Ansatz zu überarbeiten gedenkt. Jede Betrachtung von antimuslimischem Hass oder Diskriminierungen ohne Einbezug von Fragen des Rassismus oder des intersektionellen Charakters solcher Anfeindungen verhindert faktisch eine Erfassung des Gesamtbilds sowie ein effektives Vorgehen dagegen, erklärte Human Rights Watch.

2017 führte die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte eine zweite Umfrage in 15 EU-Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, zu antimuslimischer Diskriminierung durch. Darin gaben eine*r von zehn muslimischen Befragten an, dass sie den letzten antimuslimischen Vorfall gegen sie gemeldet hatten. Personen, die Vorfälle nicht meldeten, hatten das Gefühl, dass „eine Anzeige ohnehin nichts bewirken oder ändern würde“. Von denjenigen, die den Vorfall gemeldet hatten, sagten 81 Prozent, sie seien „häufig unzufrieden damit, wie die Polizei mit der Angelegenheit umgeht“.

Antimuslimische Gewalt in Deutschland, einem der Länder mit dem höchsten muslimischen Bevölkerungsanteil in Europa, ist weder ein neues Phänomen noch hat sie sich in einem Vakuum entwickelt. Im Jahr 2020 wurden bei einem rechtsextremen und rassistischen Anschlag in Hanau neun Menschen, überwiegend mit muslimischem Hintergrund, getötet: Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin. Der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer bezeichnete den Anschlag als „eindeutig rassistisch motiviert“.

Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) betonte in ihrer allgemeinen Politik-Empfehlung Nr. 5 zur Verhinderung und Bekämpfung von antimuslimischem Rassismus und Diskriminierung die Notwendigkeit unabhängiger Überwachungsstrukturen und des Kapazitätsaufbaus bei den Behörden, um antimuslimischen Rassismus zu bekämpfen und die Erkennung und Erfassung solcher Vorfälle zu verbessern.

Nach dem Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung ist die Bundesregierung verpflichtet, muslimische Communities zu schützen. Der Ausschuss, der die Einhaltung des Übereinkommens überwacht, erinnerte Deutschland 2023 in seinem Bericht zu Deutschland daran, alle rassistisch motivierten Vorfälle effektiv zu untersuchen, zu verfolgen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

„Muslimische Communities in Deutschland sind keine monolithische religiöse Gruppe, sondern eine Gruppe mit einer Vielfalt von Ethnien, die Hass und Diskriminierungen erlebt, und zwar nicht nur aufgrund ihres Glaubens“, sagte Teffera. „Deutschland sollte in den Schutz der Muslim*innen, muslimisch gelesenen Personen und aller anderen Minderheiten im Land investieren, weil es eine Investition in den Schutz der gesamten deutschen Gesellschaft ist.“
 

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